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Jörg Gronmayer - historische Romane für Kinder & Jugendliche


Die Alt-Steinzeit

Der nachfolgende Text wurde dem Anhang meines Romans „Amelie in der Alt-Steinzeit“ entnommen und für das Internet aufbereitet*:

Die Geschichte von Amelie und ihrer Freundin Sitoga spielt vor etwa 12.000 Jahren, gegen Ende eines Zeitabschnitts, den die Wissenschaftler als Jungpaläolithikum bezeichnen. Also fast 7.000 Jahre, bevor sich Ötzi, der Mann vom Hauslabjoch, auf seinen letzten Weg machte.
Die ‚Leute vom Großen Fels‘ lebten damit in der letzten Phase der Altsteinzeit und waren trotzdem moderne Menschen – genau wie wir: Könnten wir das Baby Uri in unsere Zeit herüberholen, würde es genauso aufwachsen wie die heutigen Kinder. Es ginge entsprechend seinem Alter in den Kindergarten und zur Schule, würde eine Ausbildung durchlaufen und dann einen Beruf ergreifen. Niemand könnte Uri von einem Menschen von heute unterscheiden.

Betrachtet man die Zeitspanne seit der Entstehung des Lebens vor vermutlich 2,5 Milliarden Jahren, ist die Entwicklung von der Steinzeit bis heute nur ein winzig kleiner Augenblick: Wollte man die Geschichte des Lebens mit einem Seil darstellen, wären die 12.000 Jahre, die zwischen Sitogas und Amelies Geburt liegen, etwa einen Schritt lang; das gesamte Seil jedoch würde von Meran bis nach Venedig reichen.

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Wer nachrechnen will: Ein Schritt ist etwa 75 cm lang. Wenn also 0,75 Meter 12.000 Jahren entsprechen, kommt man bei 2.500.000.000 Jahren auf rund 156 km.

Trotzdem liegt die Steinzeit aus unserer Sicht natürlich schier unendlich lange zurück. Die Leute damals haben uns keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Die Erzählungen, Legenden und Lieder sind im Lauf der Jahrtausende verloren gegangen, wie es Che‘Gwoia in der Geschichte voraussagt. Wir wissen daher nicht mehr, wie die Menschen tatsächlich gelebt haben. Welche Namen sie hatten, welche Sagen und Mythen sie sich erzählt haben, an was sie geglaubt und wovor sie sich gefürchtet haben. Lebten Männer und Frauen gleichberechtigt zusammen? Gab es eine strenge Aufgabenteilung, oder hat jede und jeder einfach das gemacht, was er oder sie am besten beherrschte? Lebten sie im Streit mit ihren Nachbarn oder waren die Gruppen so weit verstreut, dass jede Begegnung mit einem rauschenden Fest gefeiert wurde? Haben nur die Männer die Tiere gejagt, oder haben an dieser überlebenswichtigen Aufgabe alle Menschen teilgenommen, die noch nicht zu alt waren und sich nicht um Kleinkinder kümmern mussten?

Die Antworten auf diese Fragen habe ich in der Geschichte frei erfunden, bzw. habe ich Vermutungen von Wissenschaftlern aufgegriffen und sie mit meinen eigenen Vorstellungen ausgeschmückt.

Archäologie: Die ‚Lehre vom Altertum‘

Aus den Gegenständen, die in geschützten Bereichen wie in Höhlen, unter überhängenden Felsen oder eingefroren in Gletschern die Zeiten überdauert haben und die von Wissenschaftlern ausgegraben und erforscht werden, lässt sich schon einiges erkennen: Findet man an alten Feuerstellen Knochen vom Schneehasen und Rentier, kann man sich vorstellen, was die Menschen damals jagten und aßen. Von gefundenen Muscheln und Meeresschnecken, die in der Steinzeit sorgfältig zu Schmuck verarbeitet wurden, weiß man, dass diese natürlich nicht in den Alpen lebten, sondern im Mittelmeer verbreitet waren. Wie aber kamen sie dann in unser Gebiet? Es ist kaum vorstellbar, dass die ‚Leute vom Großen Fels‘ ihren Urlaub am Meer verbrachten oder mit der gesamten Sippe so weit umherwanderten. Vermutlich trafen sie sich aber mit benachbarten Gruppen, die ihrerseits wiederum mit anderen Kontakt hatten.
Wurde mit den Muscheln gehandelt? Sie waren als Schmuck sicherlich begehrt und könnten Zahlungsmittel z. B. für Steinklingen oder Jagdwaffen – oder auch für Boruds Verrat – gewesen sein.
Besonders spannend sind Funde, die direkt das Zusammenleben der Menschen betreffen: An prähistorischen Feuerstellen im Hochgebirge hat man Milchzähne gefunden. Da sich Kinder hier kaum alleine aufgehalten haben dürften, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit daraus schließen, dass sich eine ganze Familie hier zur Mahlzeit niedergelassen hatte. Was haben sie wohl gegessen? War das Kind erleichtert, als der ‚Wackelzahn‘ endlich herausgefallen war? Hat es ihn stolz herumgezeigt? Oder fiel er zunächst unauffindbar zwischen die Steine, und das Kind war traurig über seinen Verlust?
Erkenntnisse lassen sich auch durch Rückschlüsse aus anderem Wissen gewinnen: Wenn Erdschichten belegen, dass das Klima in Südtirol damals recht kalt war, ist klar, dass die Menschen warme Kleidung gehabt haben müssen.
Wie aber war diese Kleidung beschaffen? Geeignete Pflanzenfasern wie Flachs oder Hanf konnte man noch nicht anbauen. Wolle lässt sich in ausreichender Menge nur gewinnen, wenn Tierherden als Haustiere gehalten werden. Das war bei unseren Steinzeitmenschen aber nicht der Fall. Sie verfügten stattdessen über Felle bzw. Tierhäute, die durch die Jagd auf Rentier, Gams, Steinbock und Hirsch ausreichend vorhanden waren. Auch der heute ausgestorbene, damals aber weit verbreitete Höhlenbär, der fast doppelt so groß war wie unsere heutigen Braunbären, wurde erlegt und lieferte neben der großen Fleischmenge auch einen wärmenden flauschigen Pelz.
Aus Tierhäuten lässt sich mit verschiedenen Methoden haltbares Leder gerben. Bestimmt verwendeten die Menschen auch die Haare, die beim Abschaben der Tierhäute anfielen. Man konnte damit beispielsweise Filz herstellen, aus dem sich warme Mützen fertigen ließen. Sicher nutzen sie auch Gras und Laub aus der Umgebung, so wie viel später ‚Ötzi‘ seine Schuhe mit Laub gegen die Kälte ausgepolstert hatte.

Eine andere wichtige Informationsquelle ist einfaches Ausprobieren: Wenn man wissen will, wie viel weiter ein Speer fliegt, der nicht aus der Hand, sondern mit einer Speerschleuder geworfen wird, baut man sich ein Wurfholz, wie es bei Grabungen gefunden wurde, und macht Weitwurfversuche. Dies nennt man ‚angewandte Archäologie‘.
Noch in der Generation unserer Großeltern haben die Wissenschaftler geglaubt, die Menschen der Steinzeit hätten durchweg in Höhlen gewohnt. Bis in den letzten Jahren Archäologen dieses Leben selbst ausprobiert haben. Sie kamen schnell dahinter, dass es in einer Höhle meist äußerst ungemütlich ist: Wasser tropft von der Decke, der Boden ist uneben und steinig, oft kann der Rauch des Feuers nicht abziehen, und mit einem vernünftigen Brennholzverbrauch ist eine Höhle nicht heizbar. Viel besser sind dagegen Hütten oder Zelte aus dickem Fell. Bei denen lässt sich der Rauchabzug entsprechend einstellen und sie können winddicht und an geeigneten Stellen aufgebaut werden. Ein Zelt hat zudem den großen Vorteil, dass man es mitnehmen und woanders rasch wieder aufstellen kann. Sehr wahrscheinlich ist daher, dass unsere Vorfahren nur kurzfristig Höhlen besuchten – als Unterschlupf bei Unwettern oder für rituelle und religiöse Handlungen.
Eine weitere Möglichkeit, Erkenntnisse über die Lebensweise der Steinzeitmenschen zu gewinnen, ist, Menschen zu beobachten, die heute noch unter ähnlichen Bedingungen wie damals leben. Bis vor wenigen Generationen sind einige Indianerstämme Nordamerikas als Nomaden den großen Büffelherden gefolgt. Die Samländer in Lappland sind seit Urzeiten mit Rentieren vertraut und die Inuit beweisen bis heute eindrucksvoll, wie es sich auch in arktischer Kälte leben lässt.
Bei der Landschaft, den beschriebenen Gegenständen, Jagdwaffen und dem Alltagsleben im Lager habe ich versucht, mich so weit wie möglich an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu halten.

Sitogas Jagdgebiet

Als Kind habe ich praktisch jeden Urlaub mit meinen Eltern in Südtirol verbracht. Die grandiose Landschaft und die Herzlichkeit der hier lebenden Menschen habe ich sehr lieb gewonnen. Es fiel mir daher nicht schwer, die Romanreihe Amelie auf Anregung des Athesia-Verlages in dieser Region spielen zu lassen. Im Naturmuseum Südtirol in Bozen gibt es eine wunderbar gestaltete Dauerausstellung zur geologischen Entwicklung des Landes – besonders zur Geländeformung durch die gewaltigen Gletscher während der letzten Eiszeit und zur nachfolgenden Besiedelung des Gebietes mit Pflanzen und Tieren. So lässt sich erahnen, wie es hier seinerzeit ausgesehen haben muss: Es war deutlich kälter als heute. Die Schneegrenze lag etwa 1.000 m tiefer. Der Boden war in vielen Bereichen ganzjährig gefroren und taute nur in den Sommern an der Oberfläche auf. Wald gab es kaum, Bäume konnten nur vereinzelt an besonders geschützten Stellen wachsen. Archäologische Funde im Trentino, auf der Seiser Alm, im St. Felixer Weiher und bei Naturns belegen, dass hier altsteinzeitliche Gruppen lebten.
Eine wichtige Rolle für das örtliche Klima spielten die gewaltigen Alpengletscher. Als letzter Rest der gerade zu Ende gehenden Eiszeit bedeckten sie immer noch den größten Teil des Alpenraumes. Der Alpen-Hauptkamm war für Menschen damit unüberwindbar. In meiner Geschichte erstreckt sich der Eisrand noch bis etwa zum heutigen Meran. Man kann sich kaum vorstellen, dass der Gletscher im Etschtal teilweise bis zu einem Kilometer dick war.
Die Talsohlen waren sumpfig und Eisack und Etsch dürften viel mächtigere Flüsse als heute gewesen sein, weil sie immer noch die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher abtransportierten. In den tief eingeschnittenen Tälern werden sich die Menschen also kaum länger aufgehalten haben. Viel besser geeignet waren dagegen im Sommer die hoch gelegenen fruchtbaren Bergwiesen, wie die Seiser Alm, die mit saftigen Gräsern zahlreiche Beutetiere anlockten. Im Winter, wenn auf den Hochflächen zu viel Schnee fiel, zogen sich die Menschen ebenso wie die Tiere in die mittleren Lagen zurück.
Ackerbau und Viehzucht waren in diesem rauen Land unmöglich. Nur durch die Jagd konnte genug Nahrung zum Überleben beschafft werden. Pflanzen spielten zwar ebenfalls eine große Rolle, dienten aber kaum zum Sattwerden, sondern eher als Ergänzung sowie als Heil- und Würzkräuter. Beeren – vor allem Sanddorn – deckten den Vitaminbedarf. Sicher kannten die Menschen bereits die schmerzlindernde und fiebersenkende Wirkung der Weidenrinde, deren Wirkstoff wir heute als synthetisches Medikament unter dem Handelsnamen ‚Aspirin‘ verwenden.
Die Alltagsgegenstände waren wohl vorwiegend aus Holz und Knochen geschnitzt, aus Rinde, Zweigen und Gräsern geflochten und aus Fell und Leder gefertigt. Diese Dinge haben sich aber nur in seltenen Fällen bis heute erhalten. Die frühen Archäologen haben bei Grabungen, beginnend vor ca. 150 Jahren, zunächst fast ausschließlich die harten Steinklingen und -speerspitzen gefunden und so – nicht ganz korrekt – die Bezeichnung ‚Steinzeit‘ geprägt.
In meiner Geschichte gibt es übrigens weder Dinosaurier noch Neandertaler. Diese waren längst ausgestorben, bevor die ‚Leute vom Großen Fels‘ lebten.

*Alle verwendeten Bilder und Fotos wurden laut „Google-Bilder“ von den jeweiligen Fotografen zur Wiederverwendung markiert.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/79/Mann_vom_Hauslabjoch_%28Museum_B%C3%A9lesta%29.jpg

Ein Kommentar »

  1. Blog aufgeräumt » Jörg Gronmayer

    […] Die Alt-Steinzeit […]

    #1 Pingback vom 19. Januar 2011 um 15:23

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