Amelie in der Bronzezeit

 

AMELIE IN DER BRONZEZEIT

Roman von Jörg Gronmayer


„Aliya, wo steckst du? Hilf mir mit dem Mehl – und zwar sofort!“ Keifend und schrill tönte Nalas Stimme durch das Dorf.

Amelie seufzte.

Inzwischen hatte sie sich schon fast daran gewöhnt, dass alle sie ‚Aliya‘ nannten.

Auch dass sie Nala und Tisander ‚Tante‘ bzw. ‚Onkel‘ nennen musste, war nichts Neues mehr. Trotzdem erschien ihr immer noch alles wie ein unwirklicher Traum: das Dorf, das auf Pfählen in der Bucht des Sees stand; der Holzsteg, auf dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und der die einzige Verbindung zum Ufer darstellte; die Wächter, die Tag und Nacht an der Holzpalisade entlanggingen und jede Bewegung am Waldrand aufmerksam beobachteten. Und der kratzige Kragen aus Filz, der ihr den Nacken wund scheuerte.

Sie seufzte noch einmal und streckte ihren schmerzenden Rücken.

Es war wieder geschehen: Erneut hatte es einen Zeitsprung gegeben, als sie mit ihrer Klasse am letzten Schultag vor den Ferien das Pfahlbaumuseum am Ledrosee besuchte. Sie wollte noch die Hütte am Ende des Dorfplatzes besichtigen, während ihre Klassenkameraden schon Richtung Ausgang drängten. Laut Museumsprospekt stellte es das Wohnhaus einer bronzezeitlichen Fischerfamilie dar.

Als sie über die Schwelle trat, stolperte sie ungeschickt und prallte mit einer kleinen dicken Frau zusammen, die mit einem Aufschrei eine Schale voller Getreide fallen ließ. Dem unmittelbar einsetzenden Gezeter konnte sie entnehmen, dass die Person sie für ihre Nichte hielt. Hastig murmelte sie eine Entschuldigung und machte kehrt.

In ihrer Verwirrung bemerkte sie nicht sofort, dass das Pfahlbaudorf sich plötzlich verändert hatte. Ihre Schulklasse war verschwunden, ebenso der Parkplatz mit dem Reisebus und das schmucke Bergdörfchen.

Stattdessen qualmte der große Lehmofen in der Mitte der Bohlenplattform. Wäsche flatterte im Wind. Ein paar Hühner scharrten auf einem Abfallhaufen. Am Seeufer lagen schmale Boote und kräftige Männer mit nacktem Oberkörper besserten schwatzend ihre Netze und Fischreusen aus.

Aus dem Wald erhob sich wüstes Geschrei. Zweige knackten und schon brach eine Horde tobender Kinder hervor und kam über den Steg gepoltert. Die Torwächter sprangen lachend zur Seite und nun wackelte und vibrierte die ganze Holzkonstruktion, auf der das Dorf gebaut war. Im Handumdrehen war der Platz ein einziges lautes Durcheinander. Die dicke Frau riss die Tür auf und stürzte keifend nach draußen. Sie erwischte das Ohr eines der älteren Mädchen, das vor Schmerz aufjaulte.

Ein Junge zerrte ungeduldig an Amelies Ärmel. „Los komm, Aliya! Lass uns verschwinden, bevor meine Mutter uns wieder Arbeit aufbrummt. Schlimm genug, dass sie jetzt Aikki am Wickel hat.“

Hastig zog er sie zu einer fast fensterlosen Hütte hinüber und schubste sie in den dunklen Raum. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen konnte sie im ersten Moment nichts erkennen. Der Junge drängte sich an ihr vorbei, führte sie in den hinteren Teil des Schuppens und zog sie auf den Boden. Amelie spürte geglättete Balken und raue Schnüre unter sich. Es roch staubig nach altem Holz.

„Ganz leise jetzt!“, raunte die Stimme neben ihr. Draußen war der Lärm inzwischen verebbt. Die Kinderschar war weitergezogen. Nur die Frau namens Nala stapfte noch immer herum und schimpfte: „Aliya, Jarik! Ich weiß, dass ihr hier steckt. Ihr solltet euch schämen! Nichts als Unfug habt ihr im Kopf. Kommt heraus und helft mir endlich beim Brotbacken!“

Die Schritte kamen näher und die Tür öffnete sich knarzend. Nala schob ihren Kopf herein und versuchte, im finsteren Innenraum etwas zu erkennen. Die beiden gaben keinen Mucks von sich. Verwünschungen ausstoßend zog die Frau sich wieder zurück und suchte weiter in anderen Häusern.

Um Amelie drehte sich alles. Was war los? Wo war sie auf einmal? Tief unter ihr plätscherte Wasser. Durch die Ritzen im Boden konnte sie sehen, wie sich kleine Wellen an den Stelzen des Lagerschuppens brachen.

„Uff, das hätten wir überstanden“, wisperte der Junge neben ihr. „Warten wir noch eine Weile, dann schauen wir nach, ob die Luft rein ist.“ Sein Atem kitzelte an ihrem Ohr. „Sobald meine Mutter im Haus ist, stibitzen wir etwas zu essen und verschwinden im Wald.“

Unsanft rammte er ihr den Ellenbogen in die Seite: „Hey, schläfst du, Aliya? Was ist los mit dir? Du sagst ja gar nichts!“

„Äh, ich …“, stotterte sie verwirrt, „wer bist du? – und … und wo sind wir hier eigentlich?“

„Ach, lass das doch! Was soll das? Sei lieber froh, dass ich dich vor Nala gerettet habe“, gab er missmutig zurück.

„Aber …“, begann Amelie von Neuem, „ … es ist mir ernst – warum nennst du mich ‚Aliya‘? Und woher kennst du mich?“

Der Junge schien ihre Verwirrung zu spüren. Beunruhigt zögerte er, dann packte er sie grob am Handgelenk und zog sie zu einem Astloch in der Wand, durch das ein greller Lichtstrahl in den Schuppen fiel. Aufmerksam musterte er ihr Gesicht. „Sag mal, nimmst du mich auf den Arm? Erkennst du deinen besten Kumpel nicht mehr?“ Er klopfte ihr scherzhaft auf den Kopf, „Hallo, aufwachen! Ich bin Jarik, und wir kennen uns, seit mein Vater dich vor zwei Jahren über die Berge mitgebracht hat.“

Da war ihr schließlich klar geworden, dass sie sich – wie schon einmal – in einer anderen Zeit befand. Die moderne Welt, wie sie sie kannte, existierte noch lange nicht. Es gab keine Städte mit Autoverkehr, keine Schule, kein Mobil-Telefon und keinen Supermarkt.

Sie war hier ‚Aliya‘ und stammte nach Jariks Erzählungen aus einem Dorf irgendwo nördlich der Alpen. Jedermann schien sie zu kennen und sie musste ständig aufpassen, dass sie sich nicht verplapperte. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, was geschehen könnte, falls jemand entdecken würde, dass sie gar nicht die ‚Aliya‘ war, für die alle sie hielten. Mit Schaudern erinnerte sie sich an ein Erlebnis in der Altsteinzeit, in dem sie von einer Sippe verstoßen worden war und in der Wildnis fast umgekommen wäre.

Jarik war der Einzige, dem sie sich anvertraute. Zuerst war er misstrauisch und wollte nicht glauben, was Amelie da behauptete. Zu absurd und ungeheuerlich war das, was sie ihm erzählte. Sie hätte schon fast ihre Offenheit bereut, doch schließlich schenkte er ihr doch Glauben. Seither wich er nicht mehr von ihrer Seite. Er versuchte, ihr zu helfen, wenn sie wieder einmal nicht wusste, wie sie Mehl mahlen sollte oder das Herdfeuer mit Zunder und Feuerstein nicht gleich in Gang bekam.


Sie seufzte nochmals, als ihr bewusst wurde, dass Nala immer noch auf eine Antwort wartete. „Bin schon unterwegs, Tante!“, rief sie zurück, bevor diese herüberkommen und sich wieder darüber aufregen konnte, wie wenig sie beim Ausbessern des schweren zähen Ledermantels bislang vorangekommen war. Nie war ihr etwas recht zu machen. Ständig hackte sie auf ihr herum und gab ihr das Gefühl, nichts weiter als eine unnütze Esserin zu sein. Dabei gab sie sich redlich Mühe, die vielen ungewohnten und teilweise äußerst anstrengenden Aufgaben zu erledigen, die von ihr erwartet wurden.

Sie beneidete die Jungs, die viel mehr Freiheiten hatten und der ewig nörgelnden Nala meistens aus dem Weg gehen konnten. Auch ihr Onkel Tisander hatte verdächtig oft außerhalb des Dorfes zu tun und war selten zu Hause bei seiner Familie.

Sie legte das Flickzeug beiseite und eilte ins Haus, wo ihre Tante bereits den Backtrog vorbereitete. Das Mehl reichte noch nicht ganz für den Brotteig und so zog Aliya den wuchtigen Mühlstein in die Mitte des Raumes und kniete sich davor nieder. Sie streute ein paar Getreidekörner darauf und begann, den glatt geschliffenen Läuferstein hin und her über die Granitplatte zu bewegen. Die harten trockenen Körner brachen unter dem Gewicht des Steines auf und durch die Reibung entstand allmählich Mehl. Zumindest sollte das so geschehen, wenn man es richtig machte. Tatsächlich war es aber ein äußerst mühsames und anstrengendes Geschäft. Zunächst musste das Getreide gut getrocknet sein. War es zu feucht, wurden die Körner eher zerquetscht als gemahlen und das Ergebnis war für den Brotteig unbrauchbar. Aber auch wenn alles trocken war, konnte man noch vieles falsch machen. Nahm sie zu viel Getreide, glitt der Läuferstein wie auf einem Kugellager, ohne ausreichende Reibung zu erzeugen. Nahm sie zu wenig, knirschte Stein auf Stein und es war anschließend mehr Sand als Mehl im Brot. Das Mahlgut rieselte ständig über den Rand des Mühlsteins und musste immer wieder aufgesammelt und erneut unter den Läuferstein gebracht werden. Natürlich hatte sie sehr sorgsam mit der Mühle umzugehen. Ein leichter Schlag oder ein Ausrutscher konnte die wertvollen Steine beschädigen und unbrauchbar machen.

Hatte man schließlich alles beachtet, erhielt man ein grobes grau-weißes Mehl, das zwar mit Wasser vermischt zu einem harten Fladenbrot gebacken werden konnte, das aber wegen des hohen Sandanteils grauenhaft zwischen den Zähnen knirschte.

Aliya hielt den Blick gesenkt in Erwartung weiterer nörgelnder Ermahnungen. Aber heute blieb Nala ungewohnt still. Verstohlen betrachtete sie sie aus den Augenwinkeln. Die stämmige Frau hatte ihr den Rücken gekehrt und knetete den Teig im Backtrog mit ihren schenkeldicken Armen. Kam es ihr nur so vor, oder zuckten Nalas Schultern tatsächlich? Als sie ein Schniefen hörte, stand sie auf und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Tante, was ist mit dir? Weinst du?“ Nala drehte sich heftig um und sie sah Tränen auf ihrem groben Gesicht. Aufschluchzend wischte sie sich mit ihren mehligen Händen über die Augen und schmierte sich dabei Teig in die Haare.

„Was ist denn passiert?“, fragte Aliya völlig verdattert. So aufgelöst hatte sie Nala noch nie erlebt.

„Er nimmt euch mit, dich und Jarik“, brach es aus ihr hervor, „und mich lässt er schon wieder allein hier zurück. Ich hasse ihn! Ich hasse dieses ganze elende Dorf!“ Die Worte wurden zu einem Aufheulen. Sie ließ sich auf eine Bank fallen und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Behutsam setzte Aliya sich zu ihr. Es dauerte lange, bis Nala sich gefangen hatte.

Aus den Satzfetzen zwischen den Schluchzern konnte sie immerhin heraushören, dass Tisander eine Reise plante. Vor ein paar Tagen war eine kleine Gruppe Händler mit ihren Tieren aus dem Süden heraufgezogen. Sie hatten ihre Zelte am gegenüberliegenden Ufer aufgeschlagen und kauften gewaltige Mengen Lebensmittel von den Leuten im Dorf. Ihr Onkel saß die meiste Zeit drüben am Feuer und unterhielt sich lebhaft mit ihnen. Sie hatten verabredet, dass sie mit weiteren Händlern eine große Karawane bilden wollten. Nalas Mann sollte sie über die Berge bis hinauf zum kalten Nordmeer führen. Die Reise war gefährlich und würde über ein Jahr dauern.

„Jedes Mal, wenn er von einer Handelsunternehmung zurückgekommen ist, hat er mir versprochen, dass ich ihn bei der nächsten Gelegenheit begleiten darf“, beschwerte sie sich, noch immer schluchzend.

Aliya hatte Mitleid mit ihrer Tante. Tisander machte keinen Hehl aus seiner Abneigung ihr gegenüber. Und dass er sich so viel wie möglich außerhalb seines Hauses aufhielt, gab Anlass zu manch üblem Tratsch bei den Dörflern. Andererseits war Nala an ihrer Situation auch selbst schuld. Warum musste sie auch immerfort schimpfen und zetern? Kein Wunder, dass ihr Mann es nicht bei ihr aushielt! Auch Aliya hatte schließlich unter der ewig zankenden Tante zu leiden.

Plötzlich wurde ihr bewusst, was Nala da eben gesagt hatte. „Will Onkel Tisander Jarik und mich tatsächlich mitnehmen?“, sprudelte es begeistert aus ihr hervor. Erneut stürzten der Frau die Tränen aus den Augen. Doch das Mädchen hielt es nun nicht mehr länger auf der Bank.

Es sprang auf und stürmte zur Tür hinaus. Die Bohlen unter seinen Füßen dröhnten, als es auf dem schmalen Steg zum Ufer hinüberrannte.


Im Zeltlager der Händler sah sie Jarik neben seinem Vater sitzen. Mit leuchtenden Augen und aufgeregt geröteten Wangen sah er ihr entgegen.

„Wann geht es los?“, keuchte sie völlig außer Atem.

Tisander blickte schmunzelnd zu ihr. „In etwa dreißig Tagen brechen wir auf. Wenn ich euch beide so ansehe, brauche ich wohl nicht erst zu fragen, ob ihr Lust habt, mitzukommen.“ Ausgelassen jubelten Jarik und Aliya.

Einige der Händler setzten allerdings besorgte Minen auf. „Willst du wirklich die Kinder mitnehmen?“, warnte einer. „Das wird kein Spaziergang! Ich habe von Überfällen auf Reisende am Oberlauf der Adesca gehört und auch weiter im Norden gibt es wieder Unruhen.“

„Die Reise ist lang“, mischte sich ein anderer ein, „Kinder würden uns nur aufhalten!“

Aber Tisander wischte die Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. „Wir werden Krieger anheuern, die mit uns ziehen. Außerdem können wir allesamt mit dem Schwert umgehen. Auch Jarik ist inzwischen flink mit dem Messer und kann sich wehren. Er ist alt genug, um den Fernhandel zu erlernen, und Aliya soll dieses Jahr zu meiner Schwester in ihr Heimatdorf zurückkehren. Es hat schon länger keine Karawane mehr gewagt, die große Reise zu unternehmen. Die Leute werden uns die Waren daher zu Höchstpreisen aus den Händen reißen. Wer weiß, wann sich eine solche Gelegenheit wieder bietet!“

Zwei

Die nächsten Wochen wollten kein Ende nehmen, obwohl es noch ungeheuer viel zu tun gab. Riesige Mengen an Lebensmitteln mussten getrocknet, gesalzen, geräuchert, eingelegt oder auf andere Weise haltbar gemacht und anschließend in Tücher oder Lederbahnen eingeschlagen, in Körbe, Fässer und Tonkrüge gepackt und sorgfältig gestapelt werden. Die Korbmacher reparierten Gefäße und Traggestelle, die Zimmerer bauten in aller Eile wuchtige Ochsenkarren fertig. Kleidung für alle Jahreszeiten wurde von den Frauen geflickt, geändert, angepasst und neu genäht. Das ganze Dorf summte wie ein Bienenstock von der ersten Morgendämmerung bis weit nach Sonnenuntergang.

Dann kamen die Handelswaren. Erzgießer brachten aus den umliegenden Tälern die rohen Kupferbarren, die sie in ihren Schmelzöfen aus den reichen Vorkommen von Malachit gewonnen hatten. Schmiedefertige Bronze, verhüttet aus Kupfer und dem wertvollen, quer über den ganzen Kontinent herbeigeschafften Zinn, wurde auf hölzerne Karren verladen.

Die beiden Schmiede, die bei den Dörflern höchstes Ansehen genossen, räumten ihre Lagerschuppen und boten ihre in monatelanger Arbeit hergestellten Waffen, Werkzeuge und Schmuckgegenstände den Händlern zur Mitnahme an. Aliya hatte zwar schon mehrfach zugesehen, wenn sie in ihrer Werkstatt am See kunstfertig eine ‚Sicherheitsnadel‘, wie sie die Schmucknadeln zum Zusammenhalten der schweren Wollumhänge insgeheim nannte, aus einem rot glühenden Metallstück hämmerten. Beim Anblick der prächtigen Diademe, reich verzierten Halsreifen und fein gearbeiteten Broschen, die sie nun sah, blieb ihr vor Staunen jedoch der Mund offen stehen.

„Gar nicht so übel, wie?“, neckte sie ihr Onkel, der aufmerksam das Zählen, Schätzen und die harten Verkaufsverhandlungen der wertvollen Güter überwachte. Er griff vorsichtig nach einem besonders fein ziselierten Diadem und setzte Aliya den schweren Bronzereif auf den Kopf. „An einem hübschen Mädchen kommt der Schmuck doch gleich viel besser zur Geltung“, machte er nun dem zähen Feilschen zwischen Käufer und Verkäufer ein Ende. „Ich denke, für dieses prächtige Stück ist der verlangte Preis durchaus gerechtfertigt.“ Während Aliya vor Verlegenheit rot anlief, grinste der Schmied erleichtert und der Händler hatte große Mühe, seinen Ärger über die Einmischung hinunterzuschlucken.


Tisander ließ es sich nicht nehmen, jedes einzelne Trag-, Reit- und Zugtier sorgfältig zu untersuchen und auszuwählen. Boten eilten mit wichtigen Nachrichten in alle Richtungen davon oder kamen erschöpft ins Lager gestolpert.

Täglich stießen weitere Teilnehmer zur Karawane: Händler aller Art trafen zusammen – ein paar mit hoch bepackten einachsigen Ochsenkarren, einige mit kleinen, stämmigen Pferden, wieder andere trugen ihre schwer beladenen Traggestelle selbst auf dem Rücken.

Finster dreinblickende Krieger ließen sich von Tisander anwerben. Sie sonderten sich von den übrigen Teilnehmern ab, schärften ihre Waffen und übten sich in deren Gebrauch. Fremd aussehende Gestalten schlugen ihre Zelte am Seeufer auf und beäugten einander misstrauisch.

Am seltsamsten fand Aliya den Anblick einer Herde Ziegen, die Körbe voller Töpferwaren und Tuchballen trugen. Zicklein sprangen munter und laut meckernd hinter ihren schwer bepackten Müttern her.


Die Nachricht vom bevorstehenden Aufbruch der großen Handelskarawane hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und viele wollten die Gelegenheit nutzen, in ihrem Schutz die Alpen zu überqueren. Jeder Ankömmling hatte sich bei Tisander zu melden. Die Anzahl der Zelte vergrößerte sich ständig.

Einige der Neuankömmlinge wies der Karawanenführer ab – weil sie schlecht ausgerüstet, zu gebrechlich oder gar krank waren. War sie erst einmal unterwegs, konnte die Karawane keine Rücksicht nehmen. Manche hatten auch einfach nicht die notwendigen Tauschgüter, um den Preis für den Schutz durch die Soldaten zu bezahlen. Die Abgewiesenen mussten das Lager wohl oder übel wieder verlassen.


Je näher der festgelegte Abreisetag rückte, desto gereizter und hektischer wurde die viel zu dicht zusammengepferchte Menschenmenge. Tisander beauftragte einige der Händler, die überall aufflackernden Streitereien zu schlichten. Über schwerere Fälle wie Diebstähle oder Betrügereien saß er dagegen selbst zu Gericht. Seine harten Urteilssprüche waren gefürchtet, doch mit seiner schon sprichwörtlichen Gerechtigkeit, die keine Rücksicht auf den Rang des Angeklagten nahm, hatte er sich schnell die Achtung der Menschen errungen.

Am Abend vor dem Aufbruch erreichte das Chaos seinen Höhepunkt. Bis tief in die Nacht waren alle am Packen. Große steinharte Fladenbrote, die die Frauen in den vergangenen Wochen gebacken hatten, wurden in saubere Tücher eingeschlagen, die letzten verfügbaren gedörrten Fische den Dörflern zu Höchstpreisen abgekauft. Tisander schien überall zugleich zu sein, hier eine Anweisung zu geben, dort mit Hand anzulegen, wenn Hilfe nötig war.

Als der Morgen heraufdämmerte, wurden die Feuer gelöscht, die Zelte abgebrochen, letzte Habseligkeiten verstaut und schließlich die Tragtiere beladen und die Ochsen angeschirrt. Aufgeregt beobachteten Aliya und Jarik, wie sich aus dem Durcheinander allmählich eine lange, bunte Karawane bildete. Als die Sonne endlich am Horizont erschien, hatte jeder den ihm zugewiesenen Platz eingenommen.


Aliya war noch nie zuvor geritten – außer ein paar Mal als Kind in einem Tierpark. Aber dort hatten Angestellte die Ponys in einem abgesperrten, mit Sägemehl bestreuten Kreis herumgeführt. Nun jedoch saß sie mit einem flauen Gefühl im Magen auf einem stämmigen, weiß und braun gescheckten kleinen Pferd, das zum Glück völlig ruhig wirkte. Hinter ihrem Sattel war ein Sack mit ein paar warmen Kleidern, Lebensmittelvorräten und ihrem persönlichen Krimskrams festgeschnallt. Quer darüber ihre zusammengerollte Schlafmatte.

Neben ihr saß Jarik stolz auf einem Hengst. Ein nagelneuer Dolch hing an seinem Gürtel und seine Augen blitzten voller Vorfreude auf die vor ihnen liegenden Abenteuer. Als er bemerkte, dass sie zu ihm herüberblickte, blinzelte er ihr verschwörerisch zu.

Vor Aufregung tastete Aliya immer wieder nach ihren beiden Glücksbringern, die sie unter dem wollenen Hemd trug: Ein kleines hölzernes Pferdchen, das einst ihr Großvater für sie geschnitzt hatte, und ein Frauenfigürchen aus versteinertem Holz. Dies hatte sie nach ihrem ersten großen Abenteuer von ihrer Freundin Sitoga zum Abschied geschenkt bekommen. Aus heiterem Himmel überfiel sie jäh ein Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit und es wurde ihr schmerzhaft bewusst, wie unendlich weit sie von allem Vertrauten entfernt war. Gestrandet in der Zeit – irgendwo zwischen der Altsteinzeit mit Sitoga und Rokai – und ihrem Zuhause mit ihrer Familie und ihren Freundinnen aus der Schule. Was mochte aus der ‚echten‘ Aliya geworden sein, in deren Rolle sie offensichtlich hineingeraten war? War sie jetzt als ‚Amelie‘ in der modernen Zeit gefangen? Wie sollte es werden, wenn sie nach der Alpenüberquerung plötzlich Aliyas Mutter gegenübertreten musste – die würde doch bestimmt sofort erkennen, dass Amelie nicht ihr Kind war …

Aus den Erzählungen der Menschen und mit Jariks Hilfe hatte sie herausgefunden, dass die ‚echte‘ Aliya in einem Pfahlbaudorf aufgewachsen war, ähnlich dem hier am Mond-See, aber auf der Nordseite des großen Gebirges gelegen. Eine Seuche hatte dort gewütet und viele Bewohner waren gestorben. Als Aliyas Mutter ebenfalls erkrankte, hatte sie ihre Tochter in ein benachbartes Dorf geschickt, damit sie der Krankheit entgehen möge. Ihr Bruder Tisander war gerade dabei, eine kleine Karawane von Händlern zusammenzustellen, und so war sie mit ihm über die Berge nach Süden gekommen.

Jetzt sollte es also wieder zurückgehen. Hoffentlich erwartete niemand von ihr, dass sie sich an den Weg erinnerte …


Sie schreckte auf, als sich plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm erhob. Die Soldaten schlugen mit Speeren auf ihre Schilde und gaben damit das Zeichen zum Aufbruch. Aliyas Pferd setzte sich ruckartig in Bewegung und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten und nicht herunterzufallen. Nach einer kurzen Strecke hatte sie sich an den Rhythmus ihres Pferdchens angepasst und war nun in der Lage, aufrechter und entspannter zu sitzen. Sie probierte aus, wie sie es dazu bringen konnte, seine Gangart zu ändern. Sanft drückte sie mit dem Schenkel in seine Flanke. Schließlich etwas fester. Es schnaubte nur unwillig und behielt stur seinen Trott bei, ohne sich auch nur im Mindesten um Aliyas Anweisungen zu kümmern.

Sie zog am Zügel. Das Pferd wieherte und schüttelte verärgert den Kopf.

Nun zog sie kräftiger. Die Stute bog den Hals zurück und schnappte wütend nach ihrem Schienbein.

Jarik neben ihr konnte sich nur schwer das Lachen verkneifen. Schließlich gab sie es auf. Offenbar folgte der störrische Gaul einfach stur den anderen Tieren der Karawane. Sollte er doch!


Jetzt, als sie endlich unterwegs waren, senkte sich eine angespannte Ruhe über die Menschen. Das aufgeregte Lärmen und das Geschrei des Aufbruchs verstummten rasch. Die Dorfkinder blieben zurück und die Reisenden hingen meist schweigend ihren Gedanken nach. Ab und zu wurden halblaut kurze Anweisungen gegeben oder die Tiere angetrieben. Allen war deutlich bewusst, dass eine sehr lange, anstrengende und gefährliche Reise vor ihnen lag.


Der Weg wurde schmaler, als sie in den schütteren Wald am Nordufer eintauchten und die Karawane zog sich in die Länge. Die Gipfel der Berge wirkten bedrohlich nahe, die Sonne verbarg sich hinter weißen Dunstschleiern. Kein Lufthauch regte sich. Vom sumpfigen Seeufer her stürzten sich Millionen von Stechmücken auf Mensch und Tier.

Während Aliya anfangs wild um sich schlug, um die Plagegeister abzuwehren, ließ ihr Pferd die Angriffe völlig unbeeindruckt über sich ergehen.

Endlich wurde der Boden trockener. See und Mücken blieben zurück. Auf einem kleinen Hügel hielt Jarik an und griff nach dem Halfter von Aliyas Reittier. „Schau dich noch einmal um“, forderte er sie auf. Wunderschön lag der blaue See hinter ihnen. In der Ferne konnten sie das Dorf ausmachen, das Aliya in der letzten Zeit zum Zuhause geworden war. Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass sie es niemals wiedersehen würde.


Lies weiter in:
Amelie in der Bronzezeit
Roman von Jörg Gronmayer
Athesia-Verlag, Bozen
ISBN 978-88-6011-155-5
Erscheint im Frühjahr 2012