Amelie und die Steinzeitjäger

 

AMELIE UND DIE STEINZEITJÄGER

Roman von Jörg Gronmayer


Grau strömte vor dem Fenster der Wolkenstein-Mittelschule der Regen herab. Amelie unterdrückte ein Gähnen und schielte zum wiederholten Mal auf die Uhr. Zäh wie Honig kroch der Zeiger über das Zifferblatt. Wann war endlich Pause?

Ihr war schlecht. Schon seit dem Aufstehen brummte ihr der Kopf, und sie fühlte sich elend. Beim Frühstück hatte sie kaum einen Bissen herunterbekommen. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschichtsbuch zu richten. Unterrichtsthema: Steinzeit. Oh Mann! Gab es etwas Langweiligeres? Kritzeleien an Felswänden, die die Lehrerin „frühe Kunst“ nannte. Die Menschen hausten in Höhlen und ernährten sich von rohem Fleisch. Und wie sahen die überhaupt aus? Nach den Zeichnungen im Schulbuch waren das noch halbe Affen: lange strähnige Haare, zottige Fellumhänge, barfuß. Mit lächerlichen Speeren in der Hand tanzten sie um ein getötetes Tier herum. Man konnte sie fast „Ugha! Ugha!“ schreien hören.

Auf einmal war es still in der Klasse. Alle schauten schadenfroh zu ihr herüber. Mist! Wieder mal nicht aufgepasst! Frau Angerer lächelte verkniffen und wiederholte ihre Aufforderung: „Amelie, komm doch mal nach vorne und fasse die letzte Geschichtsstunde für uns zusammen!“

Zögernd stand sie auf. Die Übelkeit in ihrem Magen verstärkte sich. Sie fühlte kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Nach zwei Schritten spürte sie, wie ihre Knie nachgaben. Sie sah noch Frau Martens erschrockenes Gesicht, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.

 

Als Amelie wieder zu Bewusstsein kam, hatte sie das Gefühl, lange und tief geschlafen zu haben. Erleichtert stellte sie fest, dass es ihr besser ging: Kopfweh und Übelkeit waren verschwunden, sie fühlte sich wieder wohl. Lag sie in ihrem Bett?

Ihr war kalt, aber sie angelte vergeblich nach ihrer Bettdecke. Erstaunt stellte sie fest, dass sie ihre Thermo-Jacke anhatte. Die Augen immer noch geschlossen, spürte sie, wie ihr der Wind übers Gesicht blies, und sie roch den würzigen Duft von Erde und Gras.

Irgendetwas stimmte hier nicht! Mit einem Ruck setzte sie sich auf – und blickte fassungslos umher.

Sie war im Freien – in einer Landschaft, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie sah auf einen lang gestreckten Hügel, der mit kurzem Gras und spärlichem Gebüsch bewachsen war. Im Talgrund davor schimmerten morastige Seen und kleine Teiche – manche kaum größer als Pfützen. Etwas entfernt erhob sich düster ein gewaltiger Berg, der sie an das mächtige Felsmassiv des Schlern erinnerte.

Das musste ein Traum sein! Bestimmt schlief sie noch. Sie würde sich nicht wundern, wenn gleich ein Ritter in glänzender Rüstung auf seinem Feuer speienden Drachen vorbeigeritten käme ...

 

Inzwischen war der Wind stärker geworden. Die Sonne schien von einem blassen weißlichen Himmel, aber sie wärmte kaum. Seltsam, dass man im Traum so frieren kann!

Eine kleine Spinne krabbelte ihre Jeans herauf. Amelie stand auf und schüttelte sie ab. Vielleicht täte es ihr gut, ein bisschen zu laufen. Sie rannte so schnell sie konnte den Hang hinunter und blieb erst stehen, als sie unversehens bis über die Knöchel im schwarzen Morast versank. Eiskalt schwappte das dunkle Wasser in ihre Turnschuhe. Rasch kehrte sie wieder auf festen Boden zurück. Jetzt war ihr noch kälter geworden. Verwirrt und verunsichert ging sie zurück.

Das war kein Traum! Alles war viel zu echt – sie konnte die Sonne auf der Haut spüren, die langen Haare wehten ihr ständig ins Gesicht, und die nassen Füße fühlten sich an, wie nasse kalte Füße sich eben anfühlen.

Was war bloß geschehen? Wo war sie überhaupt?

Tränen schossen ihr in die Augen, und sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Panik stieg in ihr auf. Hektisch durchsuchte sie die Taschen ihrer Jacke, bis sie endlich ihren ganz besonderen Glücksbringer fand. Wenigstens der war noch da: das kaum daumengroße Holzpferdchen, das ihr Großvater kurz vor seinem Tod für sie geschnitzt hatte. Sie nahm es überallhin mit, und nun umklammerte sie es fest mit beiden Händen.

Sie zwang sich, ruhig zu überlegen. Was sollte sie jetzt tun?

Die weite Landschaft schien völlig menschenleer. Kein Haus war in Sicht, nicht einmal ein Weg oder eine Straße. Amelie beschloss, auf den Hügel zu steigen. Von dort müsste sie mehr sehen können.

 

Oben hatte sie tatsächlich einen weiten, aber zugleich unglaublich fremdartigen Rundblick. Sie sah in ein tief eingeschnittenes Tal. Schroff ragten hohe Felsklippen auf, direkt vor ihr fiel eine steile Geröllhalde zum Talgrund hin ab. Dahinter erstreckten sich schneebedeckte Gipfel bis zum Horizont.

Aber zu ihrer Bestürzung konnte sie nirgends eine Ortschaft oder eine Straße entdecken. Nicht einmal ein Feldweg. Kein Auto blitzte in der Sonne. Nichts war zu erkennen, was auf die Anwesenheit von Menschen hätte schließen lassen.

Erschöpft und mutlos sank Amelie ins Gras und weinte. Ihr Holzpferdchen hielt sie fest in den Händen.

Zwei

Ein Steinchen fiel vor ihr zu Boden. Sie fuhr erschreckt zusammen. Eine bedrohliche Speerspitze befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Am anderen Ende des Speers erblickte sie ein zotteliges graues Fell mit einem Furcht erregenden Wolfsschädel. Misstrauisch zusammengekniffene Augen starrten sie an. Amelie war wie gelähmt vor Schreck. Ihr Herz raste und ihr Atem ging stoßweise. Auch die Gestalt im Wolfspelz atmete schnell. Sie stieß abgehackt ein paar tiefe, halb geknurrte Laute hervor.

„Was?“, fragte Amelie unwillkürlich.

„Wer bist du? Gehörst du zu den ‚Langen‘?“

„Ich ... ich weiß nicht ...“, stotterte Amelie.

„Was weißt du nicht“, fuhr der ‚Wolfspelz‘ sie an, „wer du bist, oder wo du hingehörst? Wo sind deine Leute?“

Die Stimme klang nun hell und klar. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich um ein etwa gleichaltriges Mädchen handelte. „Gott sei Dank! Ich habe schon gedacht, ich bin völlig allein hier“, plapperte sie drauflos, „ich heiße Amelie Pinksteiner. Kannst du mich zu deinen Eltern bringen? Die könnten bei mir zu Hause anrufen und ...“

Sie wollte aufstehen.

„Bleib!“, herrschte das Mädchen sie an und hob erneut drohend den Speer.

Amelie zuckte zurück: „Was soll das? Nimm den Stock weg! Du machst mir Angst.“ – „Beantworte meine Fragen!“, befahl die Speerträgerin barsch. „Wo sind deine Leute und wie groß ist eure Gruppe?“

 

Amelie holte tief Luft. „Ich bin ganz allein hier. Ich habe mich verlaufen“, begann sie, „nein, nicht verlaufen – eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich bin einfach da unten bei dem Gebüsch aufgewacht. Und jetzt will ich wieder nach Hause.“

„Leg dich auf den Bauch! Die Hände auf den Rücken!“, befahl das Wolfsmädchen. Als Amelie zögerte, packte es sie grob, presste sie mit einem Knie auf den Boden und hatte ihr blitzschnell die Handgelenke gefesselt. „Au, du tust mir weh!“ – „Steh auf und geh vor mir her! Wenn du versuchst, zu fliehen, töte ich dich!“

Das fremde Mädchen sagte das mit solchem Ernst, dass Amelie eine Gänsehaut bekam. Es war viel stärker als sie und bedrohte sie ständig mit seiner Waffe. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

Das Mädchen deutete in das Tal hinunter. „Geh voraus!“

Das Gehen auf dem steilen Geröllfeld fiel ihr schwer. Immer wieder rutschte sie aus. Wegen ihrer gefesselten Hände konnte sie die Stürze nicht abfangen und schrammte sich schmerzhaft die Haut auf. Aber die Speerspitze in ihrem Rücken war unerbittlich und trieb sie voran.

Endlich kamen sie am Talboden an. Das Mädchen wies auf einen Felsblock in der Nähe. Amelie setzte sich und ruhte sich etwas aus. Unterdessen wurde ihre Fleece-Jacke neugierig befingert: „Was ist das für ein seltsames Leder?“, fragte die Speerträgerin schließlich. „Wie macht man diese leuchtende Farbe?“

„Hast du noch nie eine Jacke gesehen?“, gab Amelie unfreundlich zurück und zog schniefend die Nase hoch. „Das ist doch jetzt völlig egal! Ich will endlich nach Hause!“, schluchzte sie auf.

Das Mädchen betrachtete sie noch eine Weile mit gerunzelter Stirn und sah sich Jeans und Turnschuhe genau an, fragte aber nicht mehr weiter. Es löste die Fesseln. Unter dem Wolfspelz zog es einen Beutel hervor, holte einen Lederschlauch heraus und hielt ihn Amelie hin: „Da, trink etwas Wasser!“

Diese betrachtete misstrauisch den speckigen Behälter, während sie ihre schmerzenden Handgelenke massierte. Durstig nahm sie das offene Ende des Schlauchs in den Mund und versuchte, daraus zu trinken. Das weiche Leder rutschte ihr jedoch nach dem ersten Schluck wieder heraus, und der größte Teil des Wassers ergoss sich ihr über Gesicht und Hals. Prustend schüttelte sie sich und reichte ihn zurück. Das fremde Mädchen sah sie kopfschüttelnd an, nahm selbst ein paar Schlucke und packte den Schlauch wieder ein. „Wir gehen weiter“, sagte es und deutete das Tal aufwärts.

Sie kamen jetzt rascher voran. Das Mädchen hatte Amelies Hände nach der Rast nicht mehr gefesselt, ging aber noch immer mit stoßbereitem Speer hinter ihr. Bei einem dichten Gestrüpp hielten sie an. „Setz dich!“, befahl es nicht unfreundlich und kniete sich selbst ins trockene Gras. Es wirkte nun nicht mehr ganz so bedrohlich.

„Ich muss mir darüber klar werden, was ich mit dir machen soll. Wenn ich dich – so wie du bist – zu meinen Leuten bringe, werden sie dich davonjagen. Also noch mal: Wer bist du und wo ist deine Gruppe?“

„Ich habe es dir doch schon gesagt: Ich heiße Amelie“, begann sie ungeduldig, „ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin und was mit mir geschehen ist. Ich weiß nicht, was du mit ‚Gruppe‘ meinst. Ich will zurück in die Stadt, in der ich wohne – zurück zu meinen Eltern. Bitte, bring mich irgendwohin, wo ich telefonieren kann“, flehte sie, „oder zeige mir wenigstens den Weg zu einer Polizeiwache. Die werden mir weiterhelfen“.

Verwirrt sah das Wolfsmädchen Amelie an. „Du sprichst zwar unsere Sprache, aber ich verstehe deine Worte nicht. Es kann einfach nicht sein, dass du alleine hier bist! Du bist viel zu schwach, um hier leben zu können, das habe ich vorhin gemerkt. Du hast keine Waffen bei dir, trampelst beim Gehen wie ein Wollnashorn und kannst nicht mal aus einem Wasserschlauch trinken. Du würdest hier nicht lange am Leben bleiben.“ Es zuckte ratlos die Schultern. „Andererseits sind keine anderen Gruppen in der Nähe, da bin ich mir sicher. Wenn die ‚Langen‘ in unserem Gebiet wären, hätten ich und unsere Jäger sie schon längst bemerkt.“

Amelie hörte inzwischen gespannt zu. „Was erzählst du da von Waffen und Jägern? Und warum läufst du in diesem bescheuerten Wolfsfell herum?“, fragte sie. „Und wo wohnst du überhaupt? Ich sehe hier weit und breit kein Haus.“

Das Mädchen lachte hell auf. „Da sitze ich hier mit meiner Gefangenen und wir fragen uns gegenseitig Löcher in den Bauch. Also gut, dann mache ich den Anfang“, sagte es, legte den Speer neben sich und machte es sich im Gras bequem. „Ich bin Sitoga, die Wölfin, und ich gehöre zur Gruppe der ‚Leute vom Großen Fels‘. Ich bin die Enkelin von Che´Gwoia, unserer Weisen Führerin. Wir sind dieses Jahr die erste Gruppe, die auf der Hochebene angekommen ist. Weitere Gruppen werden bald zu uns stoßen. Wir werden hier zusammen die Herbstjagd abhalten, um Fleisch für den Winter zu erbeuten.

Wir kommen weit herum – von der Eisbarriere im Norden bis zu den Wäldern im Süden. So jemanden wie dich habe ich aber noch nie gesehen. Alles an dir ist seltsam: Deine Jacke hat leuchtende Farben, wie sie nur der Abendhimmel malen kann, das Leder deiner Fußbekleidung ist weißer als Schnee und du redest mit komischen Worten wie ‚Ha-us‘ und ‚telefinieren‘“. Spöttisch ahmte sie den Tonfall Amelies nach. „Gefährlich scheinst du ja nicht gerade zu sein, aber wenn ich dich jetzt einfach laufen lasse, wirst du entweder vom nächsten Höhlenbären gefressen oder rennst unseren Jägern in die Arme.“ Sitoga schüttelte heftig den Kopf, wobei der Wolfsschädel auf ihren Haaren hin und her rutschte.

„Können wir nicht erst mal zu einem Erwachsenen gehen, der uns vielleicht helfen kann?“, fragte Amelie zaghaft, die inzwischen an Sitogas Verstand zweifelte.

„Ja, ich nehme dich ins Lager mit“, beschloss diese, „aber nicht in dieser Kleidung. Wenn der Schamane dich so sieht, wird er behaupten, du seist ein böser Dämon.“ Sie runzelte die Stirn. „Wir müssen uns eine glaubhafte Geschichte ausdenken, wo du herkommst und wie ich dich gefunden habe.“

Das Wolfsmädchen zog wieder den Lederbeutel hervor. „Ich gehe jetzt voraus ins Lager und besorge dir richtige Kleidung. Versteck dich so lange in den Büschen, damit dich niemand sieht“, sagte es, kramte aus dem Beutel ein Stück dunkles Fleisch hervor und hielt es Amelie hin. „Hier hast du etwas zu essen, bis ich zurück bin.“ Aus dem unappetitlichen Klumpen ragten zwei abgesplitterte Knochen hervor, an denen getrocknetes Blut zu erkennen war.

„Was ist denn das?“ Amelie verzog angewidert das Gesicht.

„Schneehase. Ich habe ihn mit einem einzigen Steinwurf erlegt, und meine Mutter hat ihn mit Wacholder geräuchert“, erklärte Sitoga stolz. Amelie schüttelte sich. „Igitt, da klebt ja noch Blut dran!“

„Na, dann eben nicht“, brummte Sitoga beleidigt und steckte das Fleisch zurück in ihren Beutel. „Bleib auf jeden Fall im Gebüsch und verhalte dich ruhig, bis ich wieder da bin.“ Sie nahm ihren Speer auf und ging mit federnden Schritten davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Amelie schaute ihr nach, bis sie um eine Felsnase verschwunden war.

Jetzt war sie wieder allein, und die schroffen Felsen und die leere Landschaft um sie herum wirkten noch beängstigender als vorhin. Die Einsamkeit tat weh. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, Sitoga möge zu ihr zurückkommen, obwohl sie ihr dann erneut völlig ausgeliefert sein würde. Sie dachte nicht einmal daran, dass sie ja jetzt die Möglichkeit hatte, einfach wegzulaufen. Sie blieb im Gebüsch sitzen, nahm ihr Holzpferdchen in die Hand und streichelte es verzweifelt.

Drei

Die Sonne war bereits hinter den schroffen Bergen im Westen untergegangen, als sie Schritte vernahm. „Amelie? Ich bin es, Sitoga!“ Sie schaute auf und sah das Wolfsmädchen mit einem Ledersack unter dem Arm vor sich stehen. Sitoga knüpfte den Beutel auf und schüttelte den Inhalt ins Gras. „Los, zieh dich um“, forderte sie Amelie auf und hielt ihr achtlos eine Art Pullover aus gegerbtem Leder hin.

Erstaunt nahm sie das Gewand in die Hände. Es fühlte sich ganz weich und anschmiegsam an und war mit zarten Mustern aus dunkelroten und schwarzen Linien bemalt. Die Muster hatten die Form verschlungener Kreise und Ornamente, an Saum und Kragen gab es Rauten und Zickzacklinien. Die Kapuze war mit feinem Pelz besetzt.

„Warum ziehst du es nicht an?“, fragte Sitoga.

„Es ist wunderschön“, staunte Amelie. Sitoga grinste frech. „Es gehört meiner Schwester Venti. Sie wird mir schon nicht den Kopf abreißen, wenn sie merkt, dass ich es dir ‚ausgeliehen‘ habe. Nun beeile dich! Ich habe Hunger und es wird bald dunkel.“ Zu dem Hemd hatte Sitoga noch eine weite, bequeme Hose mitgebracht. Als Schuhe sollte sie eine Art Mokassins anziehen. Das waren einfache Beutel aus weichem Leder, die über die Füße gestreift und mit einem Band am Knöchel zugezogen und verschnürt wurden. An den Sohlen aus derbem, dickem Material schauten Fransen von grauem Fell heraus.

Amelie fühlte sich wie neugeboren, als sie die schönen Lederkleider angezogen hatte. Übermütig hüpfte sie herum und fragte Sitoga stolz: „Jetzt sehe ich aus wie eine richtige Indianerin, oder?“

„Indianerin?“, fragte das Wolfsmädchen verständnislos. „Jedenfalls siehst du jetzt fast aus wie eine von uns“, stellte es lächelnd fest. „Deine Sachen packen wir in den Sack und binden ihn dort oben in den Wacholderbusch. Da sieht ihn niemand und es kommen keine Tiere dran.“

Beim Zusammenpacken kullerte ihr das geschnitzte Holzpferdchen in die Hand. Nachdenklich betrachtete sie es von allen Seiten.

„Das hat mein Großvater für mich gemacht. Ich bin froh, dass ich es nicht verloren habe“, sagte Amelie leise.

Mit ernstem Gesicht drehte sich Sitoga zu ihr um und reichte ihr das Tierchen. Ihre Hand zitterte. „Du musst es bei dir tragen“, flüsterte sie rau, „es ist dein Amulett. Niemals darfst du es verlieren!“ Sie nestelte ein Stück Band aus ihrem Lederbeutel und knüpfte das Pferdchen vorsichtig daran fest. Dann streifte sie es über Amelies Kopf: „Trag es immer bei dir! Steck es unter die Kleidung und lass es niemanden sehen oder berühren!“

 

Sie machten sich erneut auf den Weg. Langsam wurde es dämmrig, und der kalte Wind blies ihnen entgegen. Amelie fror erbärmlich in den dünnen Kleidern, obwohl sie ihre Unterwäsche anbehalten und die Pelzkapuze fest über ihren Kopf gezogen hatte. Sitoga bemerkte es und wartete, bis sie sie eingeholt hatte. „Hier, nimm meinen Wolfsmantel“, sagte sie und reichte ihr das schwere Fell. Amelie sah, dass Sitoga darunter ganz ähnliche Kleider trug wie sie selbst. Dankbar kuschelte sie sich in das dicke Fell. Es roch zwar streng nach Raubtier und altem Fett, hielt aber den Wind ab und sorgte für Wärme. „Aber jetzt hast du ja nichts“, protestierte sie schwach. „Mir ist nicht kalt“, schnaubte Sitoga, „außerdem sind wir gleich da.“

 

Kurz darauf bogen sie um eine Felsnase und – sahen unter sich das Lager. Amelie blieb wie angewurzelt stehen.

„Das ... das gibt’s doch gar nicht! Dreht ihr hier einen Film oder was?“


Lies weiter in:
Amelie und die Steinzeitjäger
Roman von Jörg Gronmayer
Athesia-Verlag, Bozen
ISBN 978-88-6011-154-8
Erschienen am 15. 08. 2011